Frühstück im Treibhaus und Mohnschnecken im Winter
Burki - 24.12.20
Burkhard Müller erschließt und saniert seit 20 Jahren Kletterrouten im nördlichen Frankenjura. In einer garantiert coronafreien Weihnachtsgeschichte schreibt er vom Alltag des Routenerschließens in der Natur, auch und gerade in der Winterzeit.
Samstagmorgen, sieben Uhr: „Freie Fahrt auf Bayerns Straßen, aber Vorsicht, bei minus vier Grad und bei leichtem Schneefall muss mit Glätte gerechnet werden“. Leise dringen die Nachrichten aus dem Radiowecker an mein Ohr: „Das Wetter - leichte Bewölkung mit sonnigen Abschnitten in Mittelfranken, vereinzelte Schneeschauer bei Höchsttemperaturen zwischen minus drei und minus ein Grad“.
Zu den Nachrichten des Tages wälze ich mich halbverschlafen aus dem Bett und begebe mich ins Bad. Ein kurzes Frühstück, schnell noch eine Thermoskanne abgefüllt und beim Bäcker eine Mohnschnecke gekauft, dann geht es in der Halbdämmerung ab ins Wiesenttal im Frankenjura. Noch ist nichts los auf den Straßen. Wer nicht muss, wie einige unglückliche Arbeitnehmer und ein paar merkwürdige Erschließer, der dreht sich im wohlig warmen Bett noch mal um und träumt weiter vom Sechser im Lotto, vom Gewinn irgendeiner Weltmeisterschaft, von einer hübschen Frau, von einer Beförderung oder vom elften Grad.
Während das Auto auf dem Frankenschnellweg langsam warm wird, läuft „Café del Mar“ und ich beginne zu träumen. Nicht wirklich hoch ist die Wand, vielleicht elf oder zwölf Meter, aber kompakter Fels mit schönen Strukturen und in unterschiedlichen Farben. Das übliche Weißgelb des Jurakalkes, kombiniert mit grauschwarzen und vor allem roten Felspartien hat mir die Wand gleich sympathisch gemacht. Links ist sie senkrecht bis leicht geneigt und nach rechts wird sie ziemlich überhängend. Acht bis zwölf Routen, inklusive Sanierungen, könnten es schon werden. Die Reifen knirschen im Schnee, als ich auf dem Parkplatz am Waldrand anhalte.
Den „Bohr-Rucksack“ aufzunehmen, ist fast die schwerste Übung des Tages, 30 bis 35 kg hat das verdammte Teil bestimmt. Hilti, Ersatzakkus, Hammer, Kleber, Haken, Thermoskanne, Kletterequipment und die Mohnschnecke drücken auf die Schultern. Jetzt noch das alte Seil und die Daunenjacke gegriffen und es kann losgehen. Schweren Schrittes stapfe ich durch den Schnee in den Wald hinein. An den schneefreien Stellen unter den Nadelbäumen knistern die Blätter, die vom Reif überzogen sind. Richtige kleine Kunstwerke hat Väterchen Frost geschaffen. Einen Moment verweile ich und lausche der Stille. Kein Geräusch ist zu hören, kein Vogel singt, keine Stimmen, kein Verkehrsgeräusch, nichts, nur der eigene Atem. „Kann Kälte klingen?“, frage ich mich. Fast kommt es mir vor, als hätte der Frost eine eigene, leise Tonart.
Wie verschieden die Kletterfelsen doch mit den Jahreszeiten erscheinen! Im Sommer geschäftiges Treiben und Stimmengewirr, begleitet von Klemmkeilgeklapper und dem Klingen der Abseilachter an den Gurten. Im Winter aber ist all das weg, als wäre man in einer anderen Welt. Ich gehe weiter und stapfe schnaubend wie ein Sherpa den kleinen Hügel hoch, um im Anschluss zum Wandfuß abzusteigen und erst einmal ein Basislager zu errichten. Inzwischen ist mir schon ziemlich warm geworden und mein Atem kondensiert in der eisigen Luft.
Unter einem Felsvorsprung, mit schönen Eiszapfen verziert, liegen meine Sachen im Trockenen und sind außerdem vor Bohrstaub und herunterfliegenden Bruch geschützt. Denn so richtig lecker ist eine von Staub verdreckte Mohnschnecke nicht! Jetzt muss ich hintenherum mit Seil und Gurt auf den Felskopf hochlaufen, das Seil an einem kräftigen Baum fixieren und mit dem Grigri über die Kante abseilen, wobei der stiebende Schnee mit mir abwärts tanzt. Erst wird der Klassiker saniert und dann nebendran eine unberührte Linie eingebohrt. Morgen um die gleiche Zeit treffen ich mich mit Freunden zum Frühstück im Café Treibhaus, kommt es mir in den Sinn, während ich dann, von unten am Seil hochsteigend, nach den besten Clippositionen Ausschau halte, den Fels auf Festigkeit abklopfe, die Löcher einbohre und damit gnadenlos die magische Stille zerreiße.
Zwei Stunden später sind die Akkus meiner Bohrmaschine leer und der Kaffee aus der Thermoskanne muss mich erstmal wieder auf Betriebstemperatur bringen. Nun hat das letzte Stündlein der bohrstaubfreien Mohnschnecke geschlagen. Durch diese gestärkt, versuche ich meine steifen Knochen wieder zu aktvieren und beginne damit, die Haken in die geputzten Bohrlöcher einzukleben. Langsam jammern meine klammen Finger und solidarisieren sich mit den ausgekühlten Zehen. Jetzt noch die Umlenkhaken einkleben, dann nichts wie raus aus der Wand, Seil lösen, runterwerfen und absteigen. Vor der Wand stehend, sehe ich die neuen Haken in den beiden Linien glänzen und fast ist mir, als wäre es Weihnachten.
Ein wunderbarer Anblick, aber wie sieht es das Fachpublikum? Heutzutage zeigt es immer weniger Toleranz bei Erschließungen oder Sanierungen, die Erwartungen der kritischen Wiederholer werden immer größer und schnell gerät man in den Kritikstrudel der eisfreien Internetforen, welcher fast schon apokalyptische Ausmaße annehmen kann. Wehe, wenn der Unbill der Klettergemeinde über dich hinwegfegt, so dass du dir vorkommst wie einer dieser Rollsträucher in alten Western. Manch ein Erschließer musste schon wegen „Depression Deluxe“ in Behandlung, weil er nach über 40 Kommentaren dem Internetblabla nicht mehr gewachsen war.
Also, um der Kritik vorzubeugen, lieber doch noch mal die Griffe schön von Staub befreien, die Fingerlöcher ausblasen und vielleicht auch noch ein Räucherstäbchen in der Kirche zu St. Bühler anzünden. Gedankenversunken packe ich mein Gerödel zusammen und stelle enttäuscht fest, dass die Thermoskanne den Restkaffee zwar vor dem Gefrieren geschützt hat, das Ganze jetzt aber doch eher der Rubrik Eiskaffee zuzuordnen ist. Es dämmert schon wieder, als ich, meinen eigenen Spuren folgend, zum Auto zurückstapfe und mich aufgrund meiner schmerzenden Knochen frage, warum ich so bescheuert bin und mir nicht ein vernünftiges Hobby ausgesucht habe. Während der Rückfahrt tauen die Glieder wieder auf, was die Schmerzen eines harten Erschließungstages aber nicht wirklich reduziert. Inzwischen habe ich die Musikrichtung gewechselt und In-A-Gadda-Da-Vida dröhnt aus den Boxen. Das soeben an der Tankstelle erstandene Dosenbier ist wärmer als der Restkaffee, schmeckt herrlich und lenkt mich von der immer wiederkehrenden Frage ab: „Warum tu ich das?“
Ist es die Suche nach Neuland? Der Wunsch, die Finger in ein Loch zu stecken, wo noch keines Menschen Finger drin waren? Oder die Freude am warmen Kaffee und einer Mohnschnecke? Oder will ich bleibende Werte schaffen, kleine Kunstwerke, die man mit anderen teilen kann?
Eine einfache und befriedigende Antwort habe ich nicht für den gemeinen Internetuser. Vielleicht, weil es trotz allem Spaß macht, etwas Neues zu schaffen und Altes und Bestehendes zu erhalten. Das hört sich gut an! Wie auch immer, es gibt auch Leute, die Gartenzwerge oder Briefmarken sammeln oder in Südfrankreich Kugeln auf flache Sandflächen schmeißen, und das kann man ja auch nicht wirklich erklären. Im Endlostrommelwirbel von Iron Butterfly gibt der Sänger alles und schon taucht der Stadtrand von Nürnberg auf.
Endlich Frühling! Der kalte Winter ist vorbei und an den Felsen klappern wieder Abseilachter und vereinzelt sogar Klemmkeile. Das Stimmengewirr der verschiedenen Dialekte und Sprachen ist zurück und wird durch lustige, vielfältige Handyklingeltöne begleitet. Die Vögel singen wieder und ganz unten im Wiesenttal schaltet ein fränkischer Valentino Rossi bei 13.000 Umdrehungen seine Honda Fire Blade hoch, um in der polizeilichen Geschwindigkeitsmessung an der Sachsenmühle mit stolzen 196 Stundenkilometern Tagesbestleistung abzuliefern. Die fränkische Klettersaison ist eröffnet!
Meine Freundin klettert an den Schlossbergwänden in Burggaillenreuth die neue Route Frühstück im Treibhaus und meint freudestrahlend beim Ablassen: „Die ist ja schööön!“, um mich dann aber kurze Zeit später zu beschimpfen, dass ich in den Klassiker gefälligst noch einen Haken mehr hätte setzen sollen. Dann hätte sie auch nicht vor lauter Angst den Vorstieg abgebrochen. DEPRESSION DELUXE - die Toten Hosen wird innerhalb kürzester Zeit eine der beliebtesten Routen und erreicht in der Anzahl der Internetkommentare gemeinsam mit der Foto-Kante einen beachtlichen Spitzenplatz, den selbst Weltklasserouten, ja Meilensteine der Klettergeschichte, nicht erreicht haben, da sie das Pech der frühen Geburt - oder sollte ich besser sagen - der frühen Vor-Internet-Erschließung hatten und damit dem oftmals kleinlich, peinlichem Gezänk entkamen.
In ein paar Wochen, wenn die erste Hitzwelle über das Land rollt, so dass der Kleber fast schneller hart wird, als man die Haken einbringen kann, werden wir zum Klettern die Nordwände in den tiefen fränkischen Wäldern abklappern. Am meisten aber freue ich mich immer auf den farbenprächtigen Herbst, meine fränkische Traumzeit. Und wenn die Blätter sich wieder am Boden sammeln und mit dem Reif eine neue Liaison eingehen, dann kommt er wieder, dieser stille Frost, die schneebedeckten Felsköpfe und die Bohrsaison wird erneut aufleben und ihr, liebe Kletterfreunde, ihr werdet immer noch diese Fragen stellen: Warum steckt wo welcher Haken und warum nicht?
Doch wir vier wissen die Antwort: Die Bohrmaschine, der Kaffee, die Mohnschnecke und ich.
Zum Autor: „Burki“ - Burkhard Müller, Jahrgang 1962, erschließt und saniert seit 2001. Er hat bis heute über 180 Routen im Bereich von 3 bis 9- in der Fränkischen erstbegangen und in mehr als 90 alten Wegen Hakensanierungen durchgeführt.
Kommentare
Alexa am 30.12.20
Voll schöne Weihnachtsgeschichte👍😊😊und danke für die schöne Röthelzeit, bin da im Herbst immer gern😊
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